STEINER (1920-24)

 „Dann würde der Geographieunterricht (...) darin bestehen, einen Überblick zu geben. In (...) Geographie wäre überhaupt nur ein Überblick zu geben; Einzelheiten kann der einzelne sich suchen, wenn er den Überblick über das Ganze hat.“ (Lehrerkonferenz 30.04.1924) (Steiner 1975a, S. 152)

HEYDEBRAND (1925, 2009) – Vom Lehrplan der Freien Waldorfschule

Keine Angaben

STOCKMEYER (1955, 1988) – Angaben Rudolf Steiners für den Waldorfschulunterricht

„Die 12. Klasse bringt den Überblick und damit eine systematische Eingliederung des ‚ganzen geographischen Themas‘ in das Gesamtbild der Erdkunde, als Boden für Paläontologie und Ethnographie.“ (Stockmeyer 1988, S. 189)

RICHTER (1995) - Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele einer Freien Waldorfschule

Mögliche Unterrichtsinhalte:

  • Natur- und kulturgeographische Gliederungen der Erde
  • Frühe Menschenformen und ihre Differenzierung. Sprache, Religion und Geschichte als bestimmende Faktoren für die Entstehung von Völkern und Nationen. Bevölkerungsumschichtungen heute
  • Die Kulturkreise der Erde in ihrer physio- und anthropogeographischen Bedingtheit
  • Nachwirkungen kultureller Eigenarten durch «westliche» High-Tech als Problem
  • Bevölkerungsentwicklung und Tragfähigkeit der Erde. Hunger und Überfluß
  • Die Überwindung von Rassismus und Nationalismus als Aufgabe. Die Erziehung zur freien Individualität
  • Die soziale Dreigliederung Rudolf Steiners als Perspektive. Geglückte Projekte und Initiativen: Fallbeispiele für einen verantwortlichen Umgang mit der Erde in bezug auf Natur und soziokulturelle Strukturen

(Richter 1995, S. 151–152)

GÖPFERT (1999) – Das lebendige Wesen der Erde – Zum Geographieunterricht der Oberstufe

Begründung "einer Art geographischer Kultur- und Gegenwartskunde"

nachrangig: Überblick "über «das ganze geographische Thema» (Rudolf Steiner)"

(Göpfert 1999, S. 72)

LEHRPLANKOMMISSION (2000) – Erdgeschichte, Paläontologie und Aspekte der Paläoanthropologie

  • Stufen des Lebens in der Erdgeschichte – Beispiel einer Paläontologie/Anthropologie-Epoche
  • Der makrokosmische Mensch als Anfang der Welt – Hinweise auf Schöpfungsmythen
  • Und was war vor den Grünsteinen? – Was die Schöpfungsmythen zur Entstehung von Erde und Mensch erzählen

SCHMUTZ (2001) – Erdkunde in der 9. bis 12. Klasse an Waldorfschulen. Eine Gesamtkonzeption

A: Paläontologie und Anthropologie: Entfaltung des Lebens und des Menschen mit der sich wandelnden Erde

B: Weltwirtschaft: globales Handeln des Menschen (Schmutz 2001, S. 12)

GÖTTE, LOEBELL, MAURER (2009, 2016): Entwicklungsaufgaben und Kompetenzen – Zum Bildungsplan der Waldorfschule

  • natur- und kulturgeographische Gliederungen der Erde untersuchen: Erdkörper – Lebensraum des Menschen – Kosmos
  • frühe Menschenformen und ihre Differenzierung beschreiben
  • Sprache, Religion und Geschichte als bestimmende Faktoren für die Entstehung von Völkern und Nationen charakterisieren
  • Bevölkerungsumschichtungen heute problematisieren
  • die Kulturkreise der Erde in ihrer physio- und anthropogeographischen Bedingtheit darstellen
  • Nachwirkungen kultureller Eigenarten durch «westlichen» High-Tech als Problem erläutern
  • Bevölkerungsentwicklung und Tragfähigkeit der Erde, Hunger und Überfluss, «nachhaltiges» Wirtschaften im Zusammenhang darstellen
  • die Überwindung von Rassismus und Nationalismus als Aufgabe zeigen: die Erziehung zur freien Individualität
  • die soziale Dreigliederung Rudolf Steiners als Perspektive untersuchen
  • geglückte Projekte und Initiativen: Fallbeispiele für einen verantwortlichen Umgang mit der Erde in Bezug auf Natur und soziokulturelle Strukturen untersuchen / erforschen.

(Götte et al. 2016, S. 363–364)

KELLER (2009) – Globalisierungsdiskurs im Unterricht von Waldorfschulen unter Berücksichtigung des Konzepts der sozialen Dreigliederung

LEHRPLANKOMMISSION (2010) – Aspekte der Globalisierung – Materialien und Beispiele für den Geographieunterricht der 12. Klasse an Waldorfschulen (Band 1)

  • Was ist Globalisierung?
  • Homo Oeconomicus und die Dreigliederung des sozialen Organismus
  • Rolle des Geldes in der globalisierten Welt
  • Erdöl Treibstoff der Globalisierung
  • »Tödliche Hilfe« oder »Eine Bank für die Armen«
  • China seit 1949

LEHRPLANKOMMISSION (2015) – Aspekte der Globalisierung – Materialien und Beispiele für den Geographieunterricht der 12. Klasse an Waldorfschulen (Band 2)

  • Container
  • Kaffee
  • Rosen aus Kenia
  • Solidarität – die assoziative Wirtschaftsweise
  • Auf der Suche nach dem großen Maßstab
  • Äthiopien-Solarprojekt der Waldorfschule Wendelstein

RICHTER (2016, 1995) – Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule

Mögliche Unterrichtsinhalte

  1. Die Erde unter wirtschaftsgeographischen Aspekten: Globalisierung

  • Die Wirtschaftsstufen der Erde und Wirtschaftssysteme
  • Bevölkerungsentwicklung und Tragfähigkeit der Erde; Welthunger und Überfluss; Armut
  • Die drei Wirtschaftssektoren
  • Elemente der Weltwirtschaft (BIP und informeller Sektor; «arme Länder» und «reiche Länder», Entwicklung; Welt-Indizes; Entwicklung der Rohstoffpreise, Terms of trade, Warenterminbörse u. a.)
  • Welthandel an ausgewählten Beispielen (Öl, Baumwolle, Kaffee, Tee, Blumen usw.)
  • Weltfinanzwirtschaft (Geldströme, Börsen, Fonds etc.)
  • Aspekte einer gerechten (und nachhaltigen) Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung (fairer Handel, Mikrokredite, Probleme der «Entwicklungshilfe»); soziale Dreigliederung; was kann ich (als Schüler oder Schülerin) tun?

II Die Erde unter kulturgeographischen Aspekten: Weltkulturenkunde

  • Die Kulturkreise der Erde in ihrer physio- und anthropogeographischen Ausprägung
  • Gegenüberstellung von zwei oder drei kulturellen Großräumen unter naturgeographischen, wirtschaftsgeographischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten
  • Verstehen der Fremdkultur aus deren eigenen räumlichen und historischen Voraussetzungen und daran anknüpfend Reflexion über die Eigenkultur; Ausbildung einer differenzierten Urteilskraft

(Richter 2016, S. 376–377)


Bei STEINER gibt es nur den Hinweis, man solle einen Überblick geben, und keine konkrete Stoffangabe. ROHRBACH (2000) hat dies in seiner Studie „Keine Lehrplanangaben Steiners?“ nachweisen können. Auch zeigt er, dass der Hinweis STOCKMEYERS (1955), man könne Paläontologie und Ethnographie behandeln, auf nicht sorgsam recherierten Äußerungen STEINERS beruhen.

Insbesondere SCHMUTZ greift diese Hinweise auf und sieht eine Paläontologie-Anthropologie-Epoche als einen „notwendige[n] Vorläufer, um verantwortungsvoll sich mit der sozialen und wirtschaftlichen Gegenwart und Zukunft urteilend und handelnd auseinander zu setzen. Die 12. Klasse-Wirtschafts-Epoche wird also nicht abgelehnt, sondern einer Vorläuferepoche das Wort geredet.“   (Schmutz 2004, S. 9) SCHMUTZ geht es bei der Paläontologie-Anthropologie-Epoche vornehmlich darum, „dass der Zwölftklässler vorrangig lernen soll, anhand des Stoffes zu menschengemäßen Urteilen zu gelangen, so muss der Lehrer einen vertieften Blick auf die Urteilsgrundlagen werfen. Und die sind erst genügend gegeben, wenn man die vergangenen Prozesse der Natur- und Kulturevolution entsprechend gewürdigt und gedanklich durchdrungen hat. Entscheidungen für die Zukunft verlangen die Würdigung des Vergangenen und die Gewinnung von Einsichten in das Wesen der bisherigen und gegenwärtigen Entwicklung.“   (Schmutz 2004, S. 9) In der Praxis der Waldorfschulen, in denen der Lehrer in der Regel froh ist, wenn er eine Geographieepoche zur Verfügung hat, wird dieser Vorschlag von SCHMUTZ (auch Vorschlag A, SCHMUTZ (2001)) eher selten aufgegriffen.

Im Gegensatz dazu zieht sich der Ethnographie-Hinweis bis in die Gegenwart hinein, wenngleich er z. B. von RICHTER (1995) differenzierter aufgefasst wird. In der gegenwärtigen Didaktik wurde dieser Begriff unter die Kulturgeographie subsumiert. Tatsächlich ist es aus humangeographischer Sicht wichtig, verschiedene Kulturen in ihren verschiedenen Lebensräumen kennen zu lernen. RICHTER (1995), GÖPFERT (1999) sowie GÖTTE, LOEBELL, MAURER (2009, 2016) setzen hier ihre Prioritäten.

Als weiterer notwendiger Stoff wird in neuerer Zeit von der LEHRPLANKOMMISSION die Wirtschaftsgeographie unter dem Aspekt der Globalisierung gesehen. Die beiden Veröffentlichungen von 2010 und 2015 sowie die Mitarbeit einiger Kommissionsmitglieder bei RICHTER (2016) zeugen davon. Zudem hat KELLER (2009), ebenfalls ein Mitglied der Lehrplankommission, in seiner Dissertation das Thema Globalisierung in die 12. Klasse verortet. Die Frage, in welchem Umfang Wirtschaftsgeographie behandelt wird, ist in der Praxis auch davon abhängig, inwieweit der Lehrer schon in der 11. Klasse wirtschaftsgeographische Themen unterrichtet hat. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn an der betreffenden Waldorfschule in der 12. Klasse keine Geographie unterrichtet wird.

Wie schon in der 11. Klasse stehen auch hier bei der 12. Klasse hinsichtlich der Stoffauswahl mehrere Möglichkeiten zur Auswahl. Obgleich es dem Lehrer freisteht, welchen der von den einzelnen didaktischen Strömungen vorgeschlagene Stoff er auswählt oder etwas ganz anderes, so besteht das Problem, dass auch durch die zweite humangeographische Geographieepoche der Oberstufe nur Bruchteile der Themenbandbreite abgedeckt werden können. Der Hinweis von STEINER (1975a), dass man einen Überblick geben solle, stellt höchste Ansprüche an eine Unterrichtsökonomie, die im Vergleich von 1924 zu heute in der Geographie wohl nicht mehr zu leisten ist. Es ist fraglich, ob ein intensiverer didaktischer Diskurs Abhilfe verschaffen könnte oder ob nicht eine (sehr wahrscheinlich unrealistische) Ausweitung der Unterrichtsstunden die einzige Möglichkeit darstellt, diesem Dilemma zu entkommen.

Klaus Weißinger